Wo steht Haiti 10 Jahre nach dem grossen Erdbeben?
Im Januar waren’s 10 Jahre her, seit dem unvergesslichen Erdbeben 2010 in Haiti, wo alle Welt auf den ärmsten Staat der westlichen Hemisphäre geblickt hatte. Viele Medienschaffende, auch hierzulande, haben anfangs Jahr Bilanz gezogen. Es herrschte Einigkeit: Grundsätzlich geht es der Bevölkerung nicht wirklich besser.
Warum?
Naturkatastrophen
Immer wieder legten kleinere und grössere Wirbelstürme Teile des Landes lahm, oft folgten darauf grosse Überschwemmungen. Letztmals fegte « IRMA » 2017 über den Nordwesten des Landes 2016 wütete « Matthew » als einer der stärksten Wirbelstürme der Vergangenheit (lesen Sie dazu die Seiten 30/31 im Suhr Plus« ).
Am 6. Oktober 2018 überraschte ein Erdbeben mit der Stärke 6.1 auf der Richterskala den nordwestlichen Teil des Landes: 17 Tote, 300 Verletzte und eingestürzte Schulen, Spitäler und Kirchen waren die Bilanz.
Proteste gegen Korruption, Straffreiheit und Bandenwesen
Seit dem 6.Juli 2018 wird in Haiti nun regelmässig gegen die organisierte Korruption von ganz oben demonstriert (Folgen des Petro-Karibe-Fonds -> 4,3 Mia. versickertes Geld), stets mit der Forderung: Rücktritt des Präsidenten Jovenel Moïse, der Auflösung der über 90 Gangsterbanden im Dienst des Präsidenten, des Parlaments, sowie der reichen Oberschicht, die vor allem den Transport über Land sabotieren. Das Volk hungert, mehr als 80% der Bevölkerung leben in der Armut. Treibstoffmangel herrscht. Die Inflation steigt. Strassensperren und Barrikaden erschweren die Fortbewegung. Bewaffnete Gangs terrorisieren Quartiere und Strassen. Auch im Quartier der ESMONO.
Diese Situation schwächt letztendlich die Lebensbedingungen der armen Bevölkerung noch mehr als je zuvor: – Steigende Lebenskosten – Hunger – Verelendung – nicht funktionierender Kleinhandel auf den Strassen – kein Zugang zu Krankenhäusern – Schulen noch immer geschlossen, seit Anfang des Schuljahres, hauptsächlich in den Städten – nur sporadisch geöffnete Geschäfte und Banken – sehr eingeschränkter Kleinhandel wegen Diebstahl, Raubüberfall, Gewalt und Missbrauch an Marktfrauen- grosse Schwierigkeiten Trinkwasser und Strom zu erhalten, ebenso Gas zum Kochen kaufen zu können. Die Folgen davon sind: Angst, Schrecken, Lähmung und Verzweiflung der Menschen. Gleichzeitig fordern die Bürgerinnen und Bürger, die Bauern und die Mittelschicht den Präsidenten zum Rücktritt auf. Der Präsident organisiert zahlreiche bewaffnete Gangsterbanden und entsendet sie in die Quartiere, um die Bevölkerung zu terrorisieren und sie so an der Teilnahme an den Demonstrationen zu hindern. Da der Präsident auf viele ausländische Regierungen zählen kann, äusserte er, er werde nicht zurücktreten. Die politische Opposition und viele zivilgesellschaftliche Gruppen haben eine Einigung erzielt, wie den Präsidenten nach seinem Rücktritt zu ersetzen. Zur Situation vor Ort : Auflehnung gegen Korruption, Straffreiheit und Bandenwesen! Aufgebote für Grossdemo oder komplett leere Strassen, das heisst „locked up“, dauern nun schon zwei Monate. Alle machen mit!„Solidarität ist kein Verbrechen“ heisst heute eine Petition in der Schweiz. 100‘000 HaitianerInnen sind solidarisch mit ihrem Volk in Chile und in Genf
Schlussendlich wird sich jedoch kaum etwas ändern im Leben der mehr als vier Millionen Menschen, welche in absoluter Armut versinken infolge:
– einer Inflationsrate von 21 %
– einem Haushaltdefizit von bis zu 55 Milliarden USD (30. September 2019)
– der Ernährungsunsicherheit
– der Terrorisierung durch die überall gegenwärtigen bewaffneten Banden
– des hohen Treibstoff- und Strommangels
(Aus dem Jahresbericht 2019 der Stiftung « Hand in Hand« )
Corona
Veränderungen Richtung Demokratie brauchen Zeit; das lehrt uns die Geschichte. Das Volk zeigt Willen. Seit Beginn 2020 sind die Verhältnisse etwas besser. Doch gegen Korruption, zunehmende Auswirkungen der Klimaveränderung – und nun noch Corona zu kämpfen, ist happig.
Nach den ersten positiv auf das Virus getesteten Fällen wurde das Land sofort herunter gefahren, Strassensperren errichtet, Schulen geschlossen, der Ausnahmezustand ausgerufen. Kompletter Locked-down.
Die Schulen hätten zwischen Mitte und Ende Mai 2020 wieder geöffnet werden sollen – mit Maskenpflicht. Bisher ist dies nicht der Fall. Covid-Kranke werden stigmatisiert, müssen mit Gewalt rechnen, der Staat informiert widersprüchlich. Gemäss « Worldometer » steigt die Kurve der Erkrankten aktuell frappant an. Über 2100 Covid-Fälle und 44 Tote sind Ende Mai aufgeführt.
Médecins Sans Frontières eröffnet dieser Tage ein Behandlungscenter für an Covid-19 Erkrankte.
Informationskampagnen sind an der Tagesordnung, präsent auf allen Kanälen. Symptomchecks lassen sich machen via www.coronahaiti.org/ .
Grosse Angst herrscht. Auch im Quartier der ESMONO.
Wir unterstützen aktuell
Seit Beginn der Demonstrationen wurde das Leben in Montagne Noir immer schwieriger. Die Schule musste auf staatliches Geheiss monatelang geschlossen bleiben; Hunger trat an die Tagesordnung. Diverse Schiessereien erlaubten es nicht, das Quartier zu verlassen, was die Suche nach Nahrungsmitteln nicht vereinfachte. Die Erwachsenen, die meisten Analphabeten, hatten massenhaft Zeit und wünschten Lesen und Schreiben zu lernen. PRO ESMONO engagierte anfangs 2020 eine Lehrperson für den Erwachsenenunterricht.
In der Trockenperiode mit totaler Wasserknappheit halfen wir den Durst stillen durch einen Sonderfonds mit finanziellen Zustüpfen für den Wasserzukauf sowie einigen Grundnahrungsmitteln für nahrhafte Znünis für die Kinder. Diese insgesamt paar hundert Franken brachten den Familien eine riesige Erleichterung.
Die ESMONO ist eine Schule auf privater Basis, daher bekam sie vom Staat keine Gelder für die verlangten Masken bei der Schulöffnung; folglich finanzierte der Verein den Stoff und die Näharbeit.
Hoffen wir, das Land überstehe auch diese Pandemie; die hygienischen Verhältnisse sind schlecht, fliessendes Wasser gibt es in der Schule (falls es Wasser hat) und in wenigen Häusern. Sanitäre Einrichtungen sind nach wie vor Mangelware. Die Armut ist dominant. Mit verhältnismässig wenig Geld haben wir bisher immer ein Maximum an Hilfe erreichen können, um die Schule und das Leben im Quartier des Mangobaumes aufrecht erhalten zu können. Dank Ihrer Spende und dem konstanten Austausch mit der Schulleitung.
Wir haltens wie die Haitis: Step by Step. Allen Rückschlägen zum Trotz!
Herzlichen Dank für Ihre Mithilfe.
Linktipps:
Notlage in Haiti, Versorgung in Krankenhäusern gefährdet, 21.12.2019
Millions in Haiti face Hunger in 2020, CNN, 30.12.2019
Entschliessung des Europäischen Parlaments vom 28. November 2019 zu Haiti
NZZ – 30.12.2019, Aufstand im ausgelaugten Land